«Die Jagd, das Tier, der Moment»Was Frauen mit dem Gewehr in den Wald treibt

Wer die Natur liebt, könnte im Wald spazieren. Manche aber bringen ein Gewehr mit. Woher kommt die weibliche Lust am Pirschen, Horchen und Schiessen? Wir haben nachgefragt. Auf Reviergang mit Schweizer Jägerinnen.

Woher kommt die wibliche Lust am Jagen? Zwei Schweizer Jägerinnen im Porträt.

Wir treffen uns bei der Post des 6000-Seelen-Dorfs Trimbach in Solothurn. Im blitzblanken Audi-Geländewagen geht es gleich auf ins Revier. Doch plötzlich stopp, mitten im Gespräch bremst der Wagen ab und kommt am Strassenrand zum Stehen. «Gämsen!» Schnell raus aus dem Auto, hastig nehmen Brigitte und Isabelle die Ferngläser zur Hand. Am Südhang direkt gegenüber ein Dutzend schwarzer Pünktchen im Gras. Die Augen der beiden Solothurner Jägerinnen leuchten auf. Nein, Schafe sind das keine, es sind Gämsen, tatsächlich!

Isabella stammt aus einer Jägerfamilie. Ihr Vater und ihr Grossvater waren Jäger. Wie ihre Mutter Brigitte. Im Brotberuf Dentalhygienikerin, teilt sie sich das elf Hektar grosse Revier mit einem Dutzend weiterer Jäger. Isabella ist 20 und wird bald ihre Jagdausbildung abschliessen. So wie sechs andere junge Menschen, die sich 2014 im Kanton Solothurn zum Jäger ausbilden liessen. Vier davon waren Frauen. Aber was bringt junge Frauen dazu mit dem Gewehr in den Wald zu gehen?

«Wie ein kleiner Herzstillstand»

Es ist Schonzeit. Den Gämsen darf kein Haar gekrümmt werden. Aufgeregt sind Mutter und Tochter trotzdem. Brigitte fährt im Schritttempo die Strasse zum Wald hinauf, ihre Augen durchkämmen den Waldrand. Die Wiese hebt sich grellgrün vor dem Wald ab. Die Sonne fällt zwischen die Baumwipfel. Die Sicht ist gut. Die Lust ist eingeschossen. Jeden Moment könnte ein Tier auftauchen. Kurz schiebt sich eine Gämse am Waldrand vor die Baumstämme. Die Jägerinnen sprechen schneller, reichen hastig das Fernglas herum. Als wären sie Astronomen, vor deren Teleskop gerade ein seltener Stern vorbeihuscht. Gebannt verfolgen sie jede Bewegung des Tieres. Der Jagdinstinkt ist geweckt, der Spieltrieb befeuert. «Wenn ich spüre wie der Hund etwas in der Nase hat, weiss ich gleich: da war was! Und schon packt mich diese Leidenschaft!» sagt Brigitte.

Es ist ein bisschen wie Safari, abenteuerlich, berauschend und ein Glücksspiel. Aber Jagen ist intensiver als Safari, archaischer. «Du bist im Wald, in der Natur, es regnet, es ist kalt, du frierst, du schwitzt!», schwärmt Brigitte. Und wie war es das erste Mal auf ein Tier zu schiessen? «Wie ein kleiner Herzstillstand» sagt Brigitte. Aber auch heute, 23 Jahre nach dem ersten Abschuss, lässt sie das erlegte Tier nie kalt. «Jede Beute ist mit Emotionen verbunden.» Intensiv sind vor allem die Minuten nach dem Schiessen. «In den Momenten danach muss man erst einmal runterkommen», meint Isabella. «Du gibst der Seele des Tieres Zeit in die ewigen Jagdgründe zu steigen. Und dir selbst, um Puls und Herzklopfen runterzufahren.»

Zwei Schweizer Jaegerinnen auf Reviergang

Brigitte und ihre Tochter Isabella haben Gämsen erspäht.

Jäger und Liebende

Auf die Jagd gehen ist wie Flirten, glaubt Florian Asche, selbst Jäger und Autor des Buches «Jagen, Sex und Tiere essen: Die Lust am Archaischen». Das Ranpirschen, das Beobachten und Horchen sei wie das erste Rendezvous. Schon vor dem Treffen stellt man sich vor, wie der andere duftet, wie er lächelt und wie er sich anfühlt, um dann im Moment alles sehr viel bewusster wahr zu nehmen. Und Beutemachen ist die Befriedigung wie beim Sex der Orgasmus.

«Das schönste Leben auf Erden, heute will ich Sau!»

Aber ist das nicht egoistisch? Stirbt das Tier für das Vergnügen des Jägers? Brigitte ist es leid, von Tierschützern angefeindet zu werden. «Für ein Tier ist es viel besser, es wird vom Jäger erlegt» sagt sie. «Weisst du, woher das Leder deiner Schuhen kommt?» «Bist du Vegetarierin? Nein? Wenn du einmal in einer Schweinemast warst, weisst du dass ein Schwein hier ein schöneres Leben hat - und einen schöneren Tod.» Isabella nickt und ärgert sich über die Doppelmoral der Menschen, die Jäger verurteilen, aber sich im Supermarkt auf billiges Fleisch aus Massentierhaltung stürzen. Die Tierquälerei wird für den billigen Preis akzeptiert. Aber wenn der Jäger eine Sau schiesst, die er nachher selbst isst, soll er sich als Mörder anprangern lassen? «An billigem Fleisch aus dem Supermarkt verdienen alle, nur das Tier leidet», meint Isabella. «Und deshalb finde ich es einfach wunderschön, wenn wir den Tiefkühler aufmachen und uns fragen, ob wir heute Lust auf Reh, Gams oder Wildschwein haben. Die Tiere haben ein wunderschönes Leben, einen schmerzlosen Tod, keine Medikamente, das schönste Leben auf Erden, heute will ich Sau!»

Jagerinnen vor ihrer Kanzel.

Isabella und Brigitte vor ihrer Kanzel.

Jäger und Vegetarier

Doch vor dem Essen kommt das Töten. Darauf angesprochen, reagiert Brigitte genervt. Wer Fleisch isst, könne sie als Jägerin nicht verurteilen, denn der lasse das Töten einfach von anderen übernehmen. «Es ist schon lustig, wie gut die Leute verdrängen können. Ein Kotelett nicht mit einem Tier in Verbindung zu bringen. Sie haben das Gefühl, abgepackt im Supermarkt, ist das etwas anderes. Es ist aber nichts anderes. Es ist ein Tier, das getötet wurde. Sie haben das Töten einfach delegiert an jemand anderen.»

Brigittes Freundin Susan ist Vegetarierin. Sie hasst es, wenn Brigitte auf die Jagd geht. «Susan hat sich überlegt, ich will keine Tiere töten, dann kann ich auch kein Fleisch essen». Eine Entscheidung, die Brigitte respektiert. Menschen, die selbst auf Fleisch verzichten und das Jagen ablehnen, kann sie verstehen. «Wenn jemand aber kein Vegetarier ist und mich für das Töten verurteilt, dann hat das einfach keinen Wert noch weiter zu reden. Ich habe diese Diskussionen schon so oft geführt, dass ich mich nicht mehr darauf einlasse.» Man spürt, dass sie müde ist.

Isabella dagegen ist bereit für ihre Leidenschaft noch viel zu streiten. Etwa mit ihren Schulkollegen. Wenn Isabella erzählt, dass sie jagt, sind die meisten zuerst einmal erstaunt. «Und dann kommt gleich die Meinung.» Was sich manche von ihnen unter Jagen vorstellen, darüber schüttelt Isabella den Kopf. «Mein Problem ist, dass sich Leute ein Urteil erlauben, die überhaupt nichts über das Jagen wissen.» Dabei muss man selbst kein Jäger sein, um die Jagd zu verstehen. Isabellas Schwester zum Beispiel ist keine Jägerin. Und sie ist Vegetarierin. «Sie mag kein Fleisch. Doch da sie wie ich in einer Jägerfamilie aufgewachsen ist, versteht sie die Jagd. Statt uns zu verurteilen, verteidigt sie uns auch vor anderen, die uns angreifen.»

Von der Nase bis zum Schwanz

Wenn Brigitte und Isabella Fleisch essen, dann fast nur von selbst erlegten Tieren. Und sie verarbeiten nicht nur das Fleisch des Tieres. «Es wird alles verarbeitet, Haut und Haar wird verbraucht, und das Blut verwenden wir noch zum Üben mit den Hunden», sagt Brigitte. Das Nose-to-tail-Prinzip in Reinkultur.

Nose-to-tail, das ist eine Denkweise, die sich aus Respekt vor dem Tier und der Umwelt auf den früheren Umgang mit Fleisch zurückbesinnt. Ein Rind etwa hat nur einen kleinen Anteil Rinderfilet. Doch was passiert mit dem Rest des geschlachteten Tieres? Was wird aus den weniger beliebten Stücken? Wenn mehr Menschen auf traditionelle Rezepte für Innereien oder Blutwurst zurückgreifen, müssen diese nicht in der Tierfutterproduktion landen. Das Tier wird  ganzheitlich verwendet, statt es zu verschwenden.

Wie Isabella und Brigitte Fleisch konsumieren deckt sich mit dem aktuellen Wunsch nachhaltig zu leben. Das wollen viele. Nur das, was dazu gehört, ein Tier zu jagen, zu töten, zu zerteilen, das finden viele barbarisch. Für Brigitte und Isabella gehört es zur Verantwortung für den eigenen Fleischkonsum. «Wenn du auf der Jagd bist, hast du deine Pflicht zu erfüllen», sagt Isabella.

Rotfüchse, Pelz und Seuchen

Doch nicht alle bejagten Tiere werden auch gegessen. 25.135 Rotfüchse wurden 2013 in der Schweiz erlegt.  1175 davon im Kanton Solothurn. Keiner davon landete auf dem Teller. Der Rotfuchspelz wird nur teilweise verarbeitet. Der Ruf von Rotfuchspelz ist schlecht, sein Marktwert gering. Die Fuchsjagd ist trotzdem erlaubt und vom Kanton erwünscht, um ihren Bestand zu regulieren und Seuchen vorzubeugen. Eine der Seuchen ist die Fuchsräude. Dabei nisten sich Milben unter der Haut des Fuchses ein, verursachen Juckreiz und Haarausfall. «Eine elende Krankheit. Wenn du so einen Fuchs siehst, dann denkst du, den musst du erlösen», sagt Brigitte. Weil die Milben auch auf Hunde, Katzen und Menschen übertragen werden können, müsse der Fuchsbestand im Zaun gehalten werden, erklärt sie.

An Fuchsräude erkrankte Füchse magern ab und sterben meist innerhalb von drei Monaten. Aber die Krankheit könne auch ausheilen, sagt Christof Janko, Wildbiologe der TU München. Braucht es also überhaupt die Jäger zur Regulierung des Bestandes? Denn vor allem ausgewachsene, starke Füchse könnten überleben. Manche würden sich erholen und seien danach sogar immun. Janko glaubt daher, dass die Fuchsräude schon allein dafür sorgt, dass es keine Überpopulation gibt. Denn die Räude kommt immer dann, wenn es zu viel Füchse gibt.

Schweizer Jägerinnen auf Reviergang

Erstes Bild: Isabella bereitet den so genannten Schweiss für das Üben mit den Hunden vor.

Ein braver Bock

Rast in der Kanzel. Von dem kleinen, über eine Leiter erreichbaren Holzhaus aus können die Jägerinnen Tiere gut erkennen und erlegen. Brigitte positioniert ein kleines Geweih an der Wand. Sie schiebt es von rechts nach links und überlegt mit Isabella, wo an der hölzernen Wand es am besten aussieht. «Eigentlich darf man das überhaupt nicht», die Trophäe eines anderen Jägers bei sich an der Wand aufhängen. Sich mit der Beute anderer zu schmücken, ist unter Jägern verpönt. Doch da es sich bei dem Bock um ein Familienerbstück handelt, machen die beiden eine Ausnahme.

Brigitte sind die ausgestellten Erinnerungsstücke auch nicht so wichtig. Sie ist eine Fleischjägerin. Es gibt verschiedene Kategorien von Jägern: Pelzjäger, die auf das Fell des Tieres aus sind. Trophäenjäger, die ein besonders schönes Tier erlegen wollen. Und Fleischjäger. Mit dem Jagen will Brigitte vor allem ihren Magen und die Tiefkühltruhe füllen. Brigitte hat zwar auch einige Trophäen im Weinkeller, aber lieber stellt sie aus dem nicht geniessbaren Teil des Tieres Dinge her, die man gebrauchen kann. Fonduegabeln zum Beispiel, aus Geweih. Oder die Kette um ihren Hals, die von einem Gamskitz stammt. Und das Messer in ihrer Tasche aus den Zähnen eines Warzenschweins.

Ihre Tochter sieht sich als Trophäenjägerin. «Ich schaue Trophäen gerne an und Leuten, die es verstehen, zeige ich sie auch gerne.» Aber wie kommt man zu Trophäen, die sich herzeigen lassen? Der Jäger darf schliesslich nicht alles abschiessen, was ihm gerade gefällt. «Bei uns haben wir zwei Sommerböcke.» Das bedeutet, dass im Sommer während der Schonzeit zwei Rehböcke geschossen werden dürfen. «Du hast einen Hegeabschuss, einen Kümmerling, einen der hinkt zum Beispiel, und einen, den du gerne an der Wand haben würdest. Also eine schöne Trophäe» erklärt Brigitte. Also ein besonders schönes Tier? «Schön sagt man nicht» sagt Brigitte, man sage «ein interessantes Tier» oder ein «braver Bock». Einige der Trophäen im Haus von Isabellas Vaters wurden vor kurzem durch Hirsche aus Karton ersetzt. «Um dem ganzen das Töten zu nehmen» erzählt Isabella und verdreht die Augen. «Wenn ich meine Trophäen anschaue, dann sehe ich nicht das Töten, sondern die Jagd, das Tier, den Moment.»

99 Prozent des Jagens ist nicht schiessen

Es geht steil die Böschung hinab, der Boden ist weich und rutschig. Mitten im Wald steht ein Holzpfahl, von dem Wildtiere Salz ablecken. Heute muss diese Salzstelle erneuert werden. Brigitte und Isabella gleiten mühelos den Hang hinab. Mit Hammer und Salzeimer gehen sie ans Werk. Nach einigem Gehämmer ist das «Salzlecken» erneuert. «99 Prozent des Jägerseins ist nicht schiessen. Es ist schade, dass es immer wieder darauf reduziert wird» sagt Brigitte. «Ich glaube, wenn man den Leuten zeigen würde, was es alles braucht zum Jägersein, dann würden sie es verstehen. Dann würden sie verstehen, dass wir auf den Wald und auf die Tiere schauen und dass wir nicht nur töten», meint Isabella. «Du musst so viel wissen! In die Jagdschule gehen, Stunden abarbeiten, üben, verschiedene Prüfungen. Und du hast die Biotoppflege, die Futterstelle, das Salzlecken, um die du dich kümmern musst und die Kanzel und der Hochsitz müssen gewartet werden» Dazu kommt die Hilfeleistung, die bei Wildtierunfällen auf den Strassen geleistet werden muss.

Schweizer Jägerin mit ihren Rauhaar-Zwergdackeln

Brigitte züchtet selbst Jagdhunde.

Sind denn Jäger Tierfreunde? Brigitte und Isabella sind sich einig. Vor allem die Hunde bedeuten den beiden viel: «Sie sind unsere Helfer, unsere Freunde, unsere Begleiter und unsere Mitjäger» sagt Brigitte. Aber was ist mit dem Tier, auf das man schiessen muss? Verspürt man nicht manchmal auch Mitleid mit einem Tier, wenn man es schon vor dem Zielrohr hat? «Also beim Reh nicht, weil da krieg ich einfach Hunger und denke an den Rehbraten. Aber bei Füchsen zum Beispiel. Sie ähneln ja doch ein bisschen dem Hund. An manchen Tagen zögere ich dann auch und dann sind sie sowieso schon weg.»

Die Hunde waren es auch, die Brigitte überhaupt zur Jagd brachten. Ein Freund bat sie, seinen Biegel zum Jagdhund auszubilden. Erst dadurch entdeckte Brigitte ihre Leidenschaft und ging zur Jagdschule.

«Röcke sind nicht gern gesehen.»

23 Jahre später ist es Isabella, die zur Jagdschule geht. Und wie ist es dort, unter so vielen Männern? Zwar machen neben Isabella noch andere Frauen den Jagdschein, insgesamt sind es doch immer noch sehr wenig. 1500 der 28500 Schweizer Jäger sind Jägerinnen. Das sind gerade 5 Prozent. «In der Jagdschule gibt es keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Für meine Mutter ist das manchmal schwer zu glauben.», sagt Isabella.

Als Brigitte vor über zwei Jahrzehnten den Jagdschein machte, war sie eine Exotin. Und musste sich erst durchsetzen. «Damals war es schon noch so, dass Frauen einfach mehr leisten mussten. Bei einer Prüfung hätte ich mir nicht leisten können, etwas nicht zu wissen! Dann hätte es sofort geheissen, typisch Frau! Ich habe mich auch immer sehr dezent gekleidet, genau nach Vorschrift.» Heute trägt Brigitte ein schickes Outfit beim Reviergang. Halstüchlein, Schieberkappe, alles in Jägergrün, kombiniert mit hübschen Perlohrsteckern. Funktionell, aber nicht mehr so dezent, sondern feminin.

Wird die Jagd weiblicher? Nicht ganz. «Damals war eine Frau in meinem Kurs, die kam in einem Rock zum Unterricht. Da haben wir den Kopf geschüttelt» erzählt Brigitte und muss beim Gedanken daran wieder den Kopf schütteln. Und Isabella sagt «Röcke sind immer noch nicht gerne gesehen.» Aber Benachteiligung gebe es keine, alles sei jetzt sehr korrekt in den Jagdverbänden und in der Jagdschule. «Wir Frauen müssen genau gleich viel wissen, wir werden genau gleich behandelt» sagt Isabella. Ihre Mutter pflichtet ihr bei. «An Versammlungen heisst es immer Liebe Jägerinnen und Jäger oder liebe Mitjägerinnen» und Isabella stimmt mit ein wie im Chor und beide müssen lachen.

Will man denn unbedingt Frauen für die Jagd gewinnen? Brigitte überlegt. «Ich glaube, man will nicht unbedingt Frauen, aber man will Nachwuchs.»

Interview, Bilder: Eva Proske, 14.04.2015

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