Schluss mit den VorurteilenEinsam, egoistisch, Einzelkind

Geschwister scheinen ihre Wichtigkeit jahrelang überschätzt zu haben. Auch ohne Brüderchen und Schwesterchen entwickeln sich tolle Menschen. Das Drama ums Einzelkind: Es ist (hoffentlich) bald kein Thema mehr. 

Kind schaut sich selbst im Spiegel an.

Die Klischees zum Thema Einzelkind müssen nicht lang erläutert werden. Dass es sich bei geschwisterlosen Kindern um jähzornige Egoisten handeln soll, die sich weder im Kindesalter noch später als Erwachsene auf dem sozialen Parkett bewegen können, ohne unangenehm aufzufallen, hat wohl jeder schon mal gehört. Zugegeben: Der Einzelkind-Stempel ist ja auch ein willkommener Seitenhieb beim Konflikt mit dem Chef, der als Einzelkind quasi schon zu einem Tyrannen erzogen wurde, dem Nachbarn, der allein aus Geschwistermangel so dreist in der Einfahrt parkt oder der besten Freundin, die sich absichtlich immer am meisten Wein einschenkt.

Egoistisch und einsam? Auch mit Geschwistern!

Als Mensch, der nicht als Einzelkind aufgewachsenen ist, möchte man fast meinen, dass solche Vorurteile dabei kurioserweise nur dem Geist eines Einzelkindes entsprungen sein können. Denn wer sich mit seiner kleinen Schwester schon mal um das letzte Stück Torte gestritten hat, müsste selbst eigentlich am besten wissen, was Egoismus für ein hohes Gut ist. Und auch ob ihrer oft bedauerten Einsamkeit können Einzelkinder eigentlich kaum mitreden. Sich ständig die elterliche Aufmerksamkeit mit dem Rest der Rasselbande teilen zu müssen, fühlt sich schliesslich auch nicht immer wohlbehütet an. Und auch sonst lassen sich gewiss noch dutzende Klischees finden, die sich derart leicht umkehren lassen.

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Einzelkind-Klischee: Nicht mehr zeitgemäss

Und tatsächlich gibt es inzwischen auch immer mehr Studien, die sich mit den Entwicklungsunterschieden zwischen Einzelkindern und Kindern mit Geschwistern beschäftigen. Was diese ergeben? Nun ja, das lässt sich leider nicht so einfach sagen. Eine wesentliche Komponente ist hierbei nämlich der Zeitraum, in denen die Untersuchungen gemacht wurden. Während vor vielen Jahrzehnten noch Studien und Psychologenurteile den gängigen Einzelkind-Klischees Zündstoff lieferten, erweist sich die moderne Forschung wesentlich neutraler. Heute gehen Forscher davon aus, dass Einzelkinder kaum Entwicklungsunterschiede zu Kindern mit Geschwistern aufweisen.

Einzelkinder: Früher eine Sensation...

Die Klischees über Einzelkinder stammen nämlich aus einer Zeit, in denen Grossfamilien noch die Regel waren. Einzelkinder galten als seltene Ausnahme; fast schon eine Sensation. Es war eine Zeit, in der Familien wie kleine Konzerne organisiert waren, die ihr alltägliches Leben zum Grossteil mit- und untereinander bestritten. Geschwister spielten miteinander; regelmässigen Kontakt zu anderen Kindern gab es erst ab dem Schulalter. Einzelkinder waren zu dieser Zeit tatsächlich aussen vor. Ohne Kontakt zu Gleichaltrigen und durch den ständigen Umgang mit Erwachsenen war eine spezielle Prägung gewiss nicht auszuschliessen.

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...heute die Regel

Inzwischen haben sich die Zeiten und mit ihnen auch die Familienstrukturen geändert. Einzelkinder sind heute keine Seltenheit mehr. Sogar das Gegenteil ist der Fall: Das immer höhere Alter der Erstgebärenden, aber auch die relativ hohen Trennungsraten machen Einzelkinder längst nicht mehr zur Ausnahme. Entsprechend angepasst ist aber auch die soziale Organisation: Kinder haben heute bereits früh Kontakt zu anderen Kindern. Ob in Krabbelgruppen, Kitas oder Spielkreisen: Wirklich allein ist heute kein Kind mehr. Ausserhalb der modernen Kleinfamilie sind Strukturen gewachsen, die ein kindliches Miteinander erlauben und entsprechende Entwicklungen fördern.

Eltern fördern Einzelkinder

Auch wissen Eltern um die Notwendigkeit von gleichaltrigen Sozialkontakten. Immer mehr Eltern achten darauf, dass sich die Kleinen auch ausserhalb der organisierten Gruppen treffen. Einzelkind zu sein bedeutet heute etwas gänzlich anderes als noch vor einigen Generationen. Hoffen wir also, dass auch das Klischee bald in den Geschichtsbüchern verschwindet.

Titelbild: iStock

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