Sorry?Ja, verzeihen lohnt sich!

Kann man verzeihen lernen? Und bedeutet zu verzeihen auch zu vergessen? Vergeben ist nicht immer leicht. Doch wenn man es schafft, ist es ungemein erleichternd. Von Wut bis Vergebung – unsere Redakteurin Linda Freutel macht sich auf den Weg zum inneren Frieden.

Verzeihen ist eine Kunst: Wie du lernst zu vergeben

Es kommt wie ein plötzlicher Schub aus Zorn und Ratlosigkeit. Mein Kopf kann in solchen Momenten nicht mehr aufhören sich zu schütteln. Der Magen zieht sich zusammen, es sticht schmerzhaft. Doch eine Antwort auf die Endlosschleife aus Warum-Fragen habe ich trotzdem nicht. Und das, obwohl es nun ein Jahr her ist, dass meine beste, längst und engste Freundin mit meinem Freund eine heimliche Affäre angefangen hat. Wie kann man einen solchen Verrat nur jemals verzeihen?

Und warum sollte ich das überhaupt? Warum sollte ich jemandem vergeben, der mir ein Messer ins Herz gerammt hat? Der mir seelische Höllenqualen zugefügt und mich im höchsten Masse verraten hat? Es tut schliesslich immer noch weh.

Der Groll, der Ärger, die Einsamkeit und die Trauer: All das sind Qualen, die mir von meiner einstigen Seelenverwandten zugefügt würden. Wenn ich daran denke, brennt es, wie kräftige Peitschenhiebe, die mich wieder und wieder treffen. Mit voller Wucht. Und das scheinbar auch noch weiterhin tun werden. Und zwar noch solange, bis ich etwas Wichtiges verstanden habe.

Das meint jedenfalls der Psychologe und Buchautor («Freiraum für die Liebe») Dr. Wolfgang Krüger aus Berlin. Er sagt: «Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, diese Schmerzen loszuwerden: Indem man verzeiht. Denn nur wenn vergeben wurde, ist nichts mehr da, was einen verletzen kann. Verzeihen tut man nämlich nicht allein um des Gegenüber Willen, sondern vor allem auch für das eigene Seelenheil. Verzeihen befreit – von Schmerzen, endlosen Denkschleifen, Rachegelüsten und Trauer.»

Verzeihen braucht Zeit

Wer nachträgt, schleppt also selbst die Last. Das leuchtet ein. Zu verzeihen könnte durchaus eine Lösung sein – und das nicht nur, um den Groll loszuwerden, sondern auch, um etwas wieder zu gewinnen. In meinem Fall: Meine beste Freundin. Irgendwie vermisse ich sie schliesslich.

Manchmal fühle ich eine Sehnsucht – und zwar nicht nur nach ihr, sondern nach Frieden –  ja, sogar nach Verzeihen. Doch immer, wenn ich gerade mit dem Gedanken an Verzeihung liebäugle, überrollt mich erneut eine Welle aus Groll und unbändiger Wut. Bang! Der nächste Schlag in die Magenkuhle. Kurz, aber heftig. Verzeihen? Nie im Leben!

Dr. Krüger beruhigt mich: «Verzeihen ist keine Entscheidung, es ist ein Prozess. Lass dir Zeit. Es ist normal, dass man nicht gleich verzeihen kann. Auch Schwankungen zwischen dem Wunsch zu verzeihen und Kränkung sind nicht ungewöhnlich.» Und er hat Recht. Je mehr Zeit vergeht, desto seltener wird der Groll und positive Gedanken können wieder das Ruder übernehmen.

Ja, ich vermisse sie. In letzter Zeit sogar immer öfter. Und mit dieser Sehnsucht wächst auch mein Wunsch zu verzeihen. Zwar ist er noch ein zartes Pflänzchen, das durch den wiederkehrenden Groll hin und wieder platt gerollt wird, dennoch wird der Wunsch nach Vergebung grösser. Vor einem Jahr waren solche Gedanken noch unvorstellbar. Heute kann ich sie immer öfter zulassen.

«Gespräche helfen, um verzeihen zu können»

Es vergeht also mehr und mehr Zeit. Die Schmerzen werden tatsächlich weniger, aber gänzlich verschwunden sind sie trotzdem noch nicht. Verzeihen geschieht scheinbar doch nicht ausschliesslich durch Zeit allein. Man muss auch etwas nachhelfen. Wer verzeihen will, muss nämlich zuvor vor allem eines: Verstehen! Das quälende «Warum» verlangt nach einer Antwort. Doch die ist nicht immer leicht zu finden.

Warum lügen Menschen? Warum betrügen sie? Und warum finde ich keine Antwort auf all diese Fragen? Der Experte weiss warum: Weil nur ein Gespräch mit dem «Schuldigen» Klarheit bringen kann. Offene Gespräche, in denen die Kränkung vom Verletzten ausgesprochen und vom Sündiger anerkannt werden, sind unerlässlich, um verzeihen zu können.

Verständnis und Anerkennung lindern den Schmerz. Ob man allerdings immer auch eine Antwort auf all die offenen Fragen bekommt, ist aber nicht immer gewiss. Manchmal kann man das Handeln des Anderen nach einem Gespräch nachvollziehen. Aber manchmal eben auch nicht. Vielleicht hilft in solchen Fällen nur eine simple Erkenntnis. Nämlich, dass jedes Handeln – egal, wie gut oder schlecht – menschlich ist. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist, wie es ist, sagt die Liebe. Und auch schon Erich Fried. Vielleicht heisst verzeihen, dass man manchmal eben auch keine Antwort bekommt. Und dass man stattdessen einfach akzeptieren muss.

Verzeihen tut man ja ohnehin nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Und das stellt keine Fragen, sondern lebt von Gefühlen – von Groll, Trauer und Wut, aber eben auch von Liebe und Sehnsucht. «Man verzeiht in dem Masse, in dem man liebt», heisst es im Volksmund. Unterm Strich ist es also Liebe, die uns verzeihen lässt. Und schafft man es, zu verzeihen, geschieht sogar noch etwas mit der Liebe. Sie wird unerschütterlich und tiefer, denn je zuvor. Ein schöner Gedanke, oder?

Vergeben und vergessen? Verzeihen mit Gedächtnis

Verzeihen verdrängt die schlechten Gefühle und holt die guten zurück. Jede Beziehung – ob zwischen Eheleuten, Freunden oder der Familie – hat einen Stossdämpfer aus schönen Erinnerungen an gute Zeiten und Erlebnisse, der hilft, zu verzeihen und die Beziehung fortzusetzen. Doch Vorsicht! Verzeihen funktioniert nicht schnell. Vergeben kann man nicht um der Sache selbst Willen.

Der grösste Feind des Verzeihens sind die Hast und die Erinnerung. «Denn auch wenn man den Wunsch hat, zu verzeihen, hat man deshalb noch lange nicht vergessen», sagt auch Krüger. Im Gegenteil: Erinnerungen verfolgen einen oft länger, als einem lieb ist.

Auch das ist – laut Dr. Krüger – normal. «Vergessen kann man nicht so schnell, durch ein verzeihendes Gespräch kann die Kränkung jedoch langsam heilen und irgendwann ist sie dann auch nicht mehr so präsent im Kopf. Um vollständig verzeihen zu können ist es dabei manchmal aber auch wichtig, schlechte Erinnerungen aktiv aus den Gedanken wegzuschieben. Greif stattdessen auf deinen Stossdämpfer aus guten Erinnerungen zurück und knüpfe daran an.» So werde auch ich es versuchen. Dr. Krüger sagt schliesslich auch, dass es die grössten Kränkungen nur dort gibt, wo man am meisten liebt.

Und damit will ich nun endlich weiter machen – Liebe ist schliesslich besser als Groll. Es lohnt sich darum zu kämpfen. Oder was meinst du?

Text: Linda Freutel

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