Sex auf RezeptBringt uns Viagra für Frauen die Lust zurück?
Er will immer, kann aber nicht. Kein Problem, dafür gibt’s Viagra! Sie kann theoretisch immer, aber will nicht. Ein Problem, denn für die fehlende Lust auf Sex gab es keine Pille. Bislang. Denn das erste Viagra für Frauen ist ab Oktober unter dem Namen Addy in den USA zu haben. Wie die Lustpille wirkt und wem sie helfen könnte.

Nehmen wir Müdigkeit, Schwindel und Ohnmachtsanfälle in Kauf für mehr Lust auf Sex? Die FDA, die amerikanische Zulassungsbehörde für Lebensmittel und Arzneimittelsicherheit, hat in den vergangenen Jahren dazu zweimal «No, we can’t» gesagt. Bis zum Juni 2015. Eine Expertenkomission der FDA empfahl die Zulassung von Flibanserin, besser bekannt als Pink Viagra. Ab Oktober ist nun die rosa Pille unter dem Namen Addyi auf dem Markt.
Die lustfördernde Wirkung von Addyi gilt inzwischen als bewiesen. Der Leidensdruck von Frauen, die aufgrund einer Störung im Gehirn (HSDD – Hypoactive Sexual Desire Disorder) kaum Verlangen nach Sex haben, wiege höher als die bekannten Nebenwirkungen ihres Wirkstoffs Flibanserin. Geschätzt wird, dass etwa jede zehnte Frau unter HSDD leidet.
Auch die Mehrzahl der Frauenrechtlerinnen sagt «Yes, we can!». Denn es gibt 26 potenzfördernde Mittel für den Mann. Und für Frauen? Genau: Null. Vielleicht hält die FDA deshalb HSDD für eines der zwanzig wichtigsten ungelösten medizinischen Probleme.
Ein Viagra-Pendant für die Frau fordert also scheinbar allein die Gleichberechtigung. Aber so überschaubar wie Viagra, ist die Wirkungsweise von Flibanserin nicht.
Von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt: Wie Viagra für Frauen wirkt
Wenn ein Mann will, aber nicht kann, sorgt Viagra dafür, dass mehr Blut in den Penis fliesst und der Penis erigiert wird. Lust auf Sex? Pille schlucken, fertig.
Eine Frau kann (mit etwas Gleitgel) theoretisch immer, aber will nicht.
Dann macht Flibanserin, dass sie doch will. Doch im Gegensatz zum blauen Viagra, wirkt das pinke Viagra für Frauen nur über Umwege. Flibanserin sorgt nämlich zuallererst für bessere Stimmung im weiblichen Kopf. Und es muss täglich eingenommen werden.
Wie bei Viagra, wurde auch die luststeigernde Wirkung von Flibanserin zufällig entdeckt. Das deutsche Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim wollte ein Medikament gegen Depressionen entwickeln. Bei den ersten Test-Studien beobachteten die Forscher, dass die Versuchspersonen die Pille nur wieder ungern absetzen wollten. Denn Flibanserin veränderte nicht nur die Gemütszulage zum Besseren, sondern auch das Sexleben.
Flibanserin kurbelt die Libido an, indem es die lustfördernde Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin ankurbelt und das lusthemmende Serotonin im Hirn ausbremst.
Und das ist nichts weniger als ein Meilenstein für die Sexualmedizin. Denn bei Frauen tritt der Libidoverlust wesentlich häufiger als beim Mann auf. Fast jede Zweite leidet in ihrem Leben darunter, während es weniger als ein Drittel der Männer trifft. Und für rund zehn Prozent der Frauen mit diagnostizierter HSDD könnte das Viagra für die Frau die Lösung sein. Und für ihre Beziehungen.
Keine Lust auf Sex zu haben, wird von vielen Frauen als ein Makel empfunden, unter dem sie sehr stark leiden. Ihnen fehlt etwas, das viele als die schönste Nebensache der Welt empfinden. Sie haben kein erfülltes Sexualleben - die Ursache für viele Beziehungskrisen. Denn Frauen mit HSDD können nicht empfinden und geben, sie fantasieren nicht mal von Sex, sagt die amerikanische Gynäkologin Lauren Streicher.
Viagra fürs Gehirn: Lust fängt im Kopf an
Aber den weiblichen Kopf mit einer rosa Pille auf Lust einzustellen, kann nicht alle Probleme krisengeschüttelter Ehebetten lösen. Zwar hat die Lustlosigkeit der Frau in den wenigsten Fällen ihren Ursprung unterhalb der Gürtellinie, aber die Psyche verlangt mehr als Dopamin und Noradrenalin.
Der Autor Daniel Bergner, der sich für sein Buch («What Do Women Want?: Adventures in the Science of Female Desire») auf die Spuren des weiblichen
Verlangens begeben hat, stellte nach Durchsicht unzähliger wissenschaftlicher Arbeiten zum weiblichen Libidoverlust fest, dass es Frauen besonders in langjährigen Beziehungen schlichtweg langweilig im Bett wird.
Untersuchungen aus Holland und Kanada zeigten beispielsweise, dass Frauen keinesfalls von Natur aus keine Lust auf Sex haben. Im Gegenteil: Viele Single-Frauen, haben sehr wohl ein ausgeprägtes, sexuelles Verlangen. Bei vielen Frauen, die in einer Beziehung leben, herrscht hingegen tote Hose im Bett. Das ändert sich oft, wenn die liierte, aber lustlose Frau auf einen neuen Sexualreiz – sprich einen neuen Mann – trifft. Ob es der knackige Briefträger, der Kollege oder der Fremde in der Bar ist. Ein neuer Mann kurbelt oft die Lust an, die verschüttet lag.
Wird es uns Frauen in Langzeitbeziehungen schlicht zu gewöhnlich? Ja. Dann müssen wohl die Männer Schuld sein? So einfach ist es nicht. Denn auch mit mehr Aufregung und Fantasie im Bett ist das Problem oft nicht gelöst. Die Lust auf Sex scheint Frauen in längeren Beziehungen einfach zu vergehen – nicht, weil sie ihren Mann nicht mehr attraktiv finden oder weil sie den Sex nicht mehr geniessen, wenn es denn dazu kommt. Bergner erzählt in seiner Reportage von einer Frau, die regelmässig Orgasmen beim Sex mit ihrem Partner habe. Sie habe Spass im Bett, wenn es denn dazu kommt: Das Problem sei vielmehr, dass irgendetwas verhindere, dass sie überhaupt Sex mit ihrem Partner wolle.
Viele Langzeitbeziehungen kennen das Problem. Wenn die rosarote Brille erstmal abgesetzt ist, fällt auch der Matratzensport mäuschengrau aus. Sexualtherapeuten erklären diesen Lust-Verdruss damit, dass sich Paare im Laufe der Zeit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner sexueller Vorlieben einigten. Man weiss, was der andere mag und richtet sich danach. Das Fantasieren, experimentieren, entdecken hört einfach auf.
Frauen, die ohnehin ein sensibleres Lustempfinden haben, leiden oft stärker und leiser als ihre Partner. Die Missionarstellung ist Männern vielleicht auch langweilig geworden, doch frisst der Teufel in der Not bekanntlich Fliegen. Hauptsache satt. Das ist bei Frauen anders. Ihnen vergeht beim immer gleichen Einheitsbrei der Appetit.
Auch die Evolutionstheorie hat über das unterschiedliche sexuelle Verlangen der Geschlechter nachgedacht. Männer haben evolutionstechnisch gesehen, ein Ziel vor Augen: sich möglichst zahlreich zu vermehren. Oft Sex zu haben, liegt dann nur nahe. Frauen haben hingegen mit ein, zwei oder mehr Kindern ihre biologische Aufgabe erfüllt. Sex ist nun hinfällig.
Die biologische Erklärung greift Kulturwissenschaftlern zu kurz. Auch kulturelle Rahmenbedingungen und unsere Erziehung sollen unser Lustverhalten beeinflussen. Während bei Männer Sex mit Macht und Stärke in Verbindung gebracht wird – je mehr, desto besser, desto männlicher –werden sexuell aktive Frauen bis heute eher negativ bewertet. Zu viel Sex schickt sich nicht, Frau ist ja kein Flittchen. So wird es uns zumindest eingetrichtert. In der Folge wollen Frauen schon unterbewusst weniger Sex, weil es sich nicht gehört.
Es muss aber nicht immer so schrecklich kompliziert sein und so unmöglich. Ein häufiger Grund für die schwindende Lust am Sex ist für Paartherapeutin Esther Perel schlicht zu viel Nähe. «Viele Paare verwechseln Liebe mit Verschmelzen.» Aber gerade diese falschverstandene Innigkeit killt Leidenschaft und Erotik. Das kennen wir selbst am besten. Wenn man zusammen und sich in jeder erdenklichen Situation er-lebt, ist das Bild des Adonis und des Vamps bald Geschichte. Erotik verlangt Distanz vorm Engtanz. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die weibliche Libido bei neuen Partnern plötzlich wieder aufersteht. Aber wie soll man rückgängig machen, was sich im Alltag so bewährt. Eine Beziehung funktioniert auch deshalb oft gut, weil man sich in und auswendig kennt.
Sex auf Rezept: Löst eine Lustpille alle unsere Probleme?
Eine Pille, die sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch auswirkt, verändert nichts weniger als unsere Persönlichkeit. Und Frauen, die die Lust auf Sex seltener überkommt als ihren Partner, fühlen sich ohnehin bereits schuldig. Erhöht ein Medikament diesen Druck nicht? Und wie geht es eigentlich den Männern? Lebt es sich besser mit einer Partnerin, die eine Gehirnwäsche braucht, damit sie Lust auf ihren Partner verspürt? Und ist das Problem untreuer Männer wirklich gelöst, wenn sie zuhause eine Frau wartet, die sich mit einer Lustpille jederzeit in eine unersättliche Dirne verwandelt?
Wir leben in einer Zeit, in der es für scheinbar alles eine Pille gibt, die unsere Probleme löst. Längere Haare, weissere Zähne, weniger Fett, brauner Teint, blasser Teint, mehr Sex. Aber vielleicht liegt der Hund ganz woanders begraben. Vielleicht muss man einfach akzeptieren, dass nach einigen Jahren Zusammenleben, Wäsche waschen, Kindererziehung, Müll runterbringen und Socken zusammenlegen die Lust leidet. Schliesslich sind wir auch nur Menschen und keine Maschinen, die auf Knopfdruck zwischen Karrierefrau, Mutter und Liebesdame wechseln können.
Und der Trugschluss, dass bei einem neuen Partner alles ganz anders ist, das Feuer der Leidenschaft wieder brodelt, die Lust auf Sex, selbstverständlich immer und überall, zurückkehrt, verfällt auch hier nach einiger Zeit der Gewohnheit.
Eine Pille, die alle unsere Probleme löst, klingt verlockend. Aber ob es so einfach ist?
Text: Nina Grünberger und Linda Freutel, aktualisiert von Nathalie Riffard