InterviewExtremsportlerin Jenna Gygi über Mut und die grosse Freiheit
Jenna Gygi fliegt. Und das nicht nur aus Spass, sondern auch, weil es ihr Job ist. In einem Wingsuit stürzt sie sich aus 4000 Metern Höhe in den freien Fall. Todesmutig, draufgängerisch oder einfach nur freiheitsliebend? Wir wollten es wissen.
Sie steht an der Absprungkante in schwindelerregender Höhe, die Aussicht ist spektakulär, das Flugzeug unter ihren Füssen surrt. Konzentration. Bereit. Sie löst sich und breitet ihre Flügel aus. Aber nicht heute. Jenna Gygi sitzt gelassen am Schreibtisch und lächelt in die Videochat-Kamera. Es ist ein ungewohntes Szenario, verglichen mit ihrem Berufsalltag. Normalerweise rauscht die 29-Jährige Bernerin in ihrem Wingsuit durch die Lüfte, führt Demo-Shows auf oder gibt als Coach ihre Erfahrungen weiter. Die Extremsportlerin weiss, wie ein Sturz aus dem Höhenflug aussehen kann – und lässt sich trotzdem nicht aus der Ruhe bringen.
Jenna, Du bist Wingsuit-Pilotin. Was ist das Beste an deinem Beruf?
Ich geniesse die Natur, das Verreisen und das Heimkehren. Das grösste Highlight ist aber, dass ich mein eigener Boss bin. Das bedeutet Freiheit.
Wingsuit-Flieger haben den Ruf, Adrenalinjunkies zu sein. Was verbindest Du mit dem Extremsport?
Es hat etwas Feines, Elegantes und Selbstbestimmtes. Du fällst und kannst dich selber auffangen, selber fliegen. Das ist komisch, aber auch friedlich. Der Nervenkitzel ist Nebensache, dafür ist die Ruhe hoch oben in der Luft umso grösser.
Woher kommt der Mut, sich immer wieder in die Tiefe zu stürzen?
Bei grosser Leidenschaft braucht es keinen Mut. Wenn jemand sein Geld jede Woche auf ein Pferd setzt – das finde ich mutig!
Die Sportart gilt als die gefährlichste der Welt. Es gibt immer wieder Todesfälle. Ist es ein Spiel mit dem Leben, als Mensch zu fliegen?
Der Sport ist nur so gefährlich wie die Person, die ihn ausführt. Ich würde niemals mein Leben leichtsinnig riskieren. Dazu sind das Fliegen und die Aussicht viel zu schön. Das will man immer wieder von Neuem erleben. Ich bin auch keineswegs lebensmüde und gehe dementsprechend vorbereitet, konzentriert und durchdacht an die Sprünge heran. Wichtig ist, Nein sagen zu können, seine Fähigkeiten zu kennen und auf das Bauchgefühl zu hören. Ich akzeptiere mein Limit, bin bereit Pläne zu ändern oder abzusagen. Ein Restrisiko bleibt immer, aber es kann auch beim Wandern oder beim Klettern etwas passieren.
Dann bist Du furchtlos?
Ängstlich bin ich nicht. Bei den ersten 20 Sprüngen hat man Schiss, später kommt die Routine. Die ist tückisch. Es ist nie selbstverständlich, wenn bei einem Sprung alles aufgeht. Deshalb braucht es viel Repetition. Den Respekt vor der Disziplin muss man immer behalten. Ich habe auch nichts gegen Nervosität. Die hält wach.
Die Wingsuit-Szene ist eine Männerdomäne. Wie hast Du Dich durchgesetzt?
Ich habe viel trainiert und mich nie davor gescheut, andere um Rat zu fragen, oder über meine Schwächen zu sprechen. Dass mein Ego mir nicht im Weg stand, brachte mich auf lange Sicht weiter. Ein gesundes Selbstvertrauen braucht es auch. Als Anfängerin bist du oftmals die einzige Frau in einer Männergruppe. Das neue Küken auf dem Flugplatz. Man muss sich sagen: «Ich kann das genauso gut wie ihr!». Das ist auch so. Das Geschlecht spielt in der Luft keine Rolle. Ich würde gerne mehr Frauen auf Flugplätzen sehen. Ein ausgeglichener Gender-Mix, das wär’s!
Wer sind Deine Vorbilder?
Es fasziniert mich, wie Cristiano Ronaldo oder Roger Federer mit Leistungsdruck umgehen. Und die Rumänin Cornelia Mihai ist mein Idol aus der Fallschirmszene.
Was hätten wir nie von Dir erwartet?
Ich liebe Mode. Kürzlich habe ich mir einen MCM-Rucksack zugetan, den ich seit Jahren im Auge hatte.
Und was tust Du, damit Du nicht den Boden unter den Füssen verlierst?
Ich gehe in der Berner Altstadt spazieren und führe Gespräche, die nichts mit dem Fliegen zu tun haben.
Über Jenna Gygi
Bis sie 2011 ihren ersten Fallschirmsprung machte, lebte Jenna Gygi den Büroalltag als Kommunikationsplanerin. Inzwischen fliegt sie beruflich und am liebsten im Wingsuit-Akrobatik-Team mit ihrem Partner Jarno Cordia. In Anzügen mit Spannflächen aus Nylon absolvieren sie dazu aufeinander abgestimmte Figuren möglichst oft und schnell. Jede Übung wird mit einem Händedruck abgeschlossen. 2019 haben sie gemeinsam den World Record for Wingsuit Acrobatics aufgestellt – Im Händchenhalten sind die beiden also Profis. Unterdessen hat die Bernerin mehr als 2000 Sprünge hinter sich. Traumhaft – denn schon als Mädchen wünschte sie sich, ein Vogel zu sein.
Bilder: Jarno Cordia / James Boole