ErfahrungsberichtMagersucht – reden wir mal Klartext
I get deep heute, Leute! Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich mich «outen» und öffentlich über meine Essstörung sprechen konnte. Weil es mir aber wichtiger erscheint als ziemlich viele andere Themen für die ich tagtäglich in die Tasten haue, habe ich mich dazu entschieden meine Erfahrung mit Anorexie, besser bekannt als Magersucht, mit dem World-Wide-Web zu teilen.
Sie schleicht sich an, wie eine richtige Snake, so von hinten, ganz langsam und ehe du dich versiehst, hat sie dich im Würgegriff. Entkommen scheint unmöglich.
Ich war knapp 18 als sie angeschlichen kam. In einer Phase, in der ich mit meinen Füsschen irgendwo war, nur nicht auf dem Boden. Gefundenes Fressen für die Snake. Ich wusste nicht recht was ich wollte, wer ich war und wo ich hingehörte – alles was ich wusste war, dass ich nun offiziell als Erwachsene galt. Und als erwachsene Frau musste ich doch Stabilität haben – Kontrolle, Disziplin! Also fing ich damit an. Bei dem, was mir am nächsten war. Meinem Körper.
Zuerst wurden die Portionen kleiner, gesünder – halt eben so wie man sich als bodenständige, gesunde, erwachsene Frau ernährt. Chips und Cola – meine Hauptnahrungsmittel – wurden aus dem Speiseplan verbannt. Alles was grün und geschmackslos war landete auf meinem Teller – geil!
Das ging ungefähr ein, zwei Monate. Mein Körper begann durch den Hunger jede Menge Adrenalin auszuschütten – ein Kick, den man bereits nach kürzester Zeit nicht mehr missen will. Und wie es mit jeder Art von Sucht ist – und ja, Anorexie funktioniert genau gleich wie jede andere Sucht auch – verliert man die Kontrolle. In der Fachsprache nennt man dies übrigens «Verlust der kognitiven Kontrolle über das eigene Nahrungsbedürfnis». Nach meiner Erfahrung verliert man aber weitaus mehr.
Mein Kopf begann jegliche Bedürfnisse abzuschalten. Sex, Hunger, Zuneigung, Emotionen – hatte ich alles nicht mehr nötig. Meine ausgeprägte Empathie war am Arsch – nur mit viel Konzentration funktionierte sie, meine Augen waren ebenso leer wie mein Kopf. Für alles, wozu mein Gehirn noch Energie aufbringen konnte, mit den paar Rüebli am Tag und dem heiligen Joghurt zum Z’morge, waren Gedanken rund ums Essen. Ziemlich abgespacet das Ganze. Man beschäftigt sich geradezu exzessiv mit seinem grössten Feind. Also Leute, falls irgendwann mal jemand wissen muss wie viele Kalorien Rüebli haben – feel free and slide into my DMs!
Am schlimmsten aber war es, wenn mich die Dämonen so richtig ritten. Meistens dann, wenn ich in Gesellschaft, von mir sehr nahestehenden Personen, essen musste. Eine ganz bestimmte Szene kommt mir dabei in den Sinn. Mein Papi, der übrigens Koch ist (der beste der Welt), kochte für mich mein Ex-Lieblingsgericht. Weltuntergang. «Papi da häts Rahm dra» – als der Teller vor mir stand geriet ich in Panik, hatte einen Tobsuchtsanfall und schmiss mein Ex-Lieblingsgericht durch das Esszimmer – so musste ich es wenigstens nicht mehr essen.
Dass meine Schwester weinend aus der Wohnung stürmte und mein Vater einen Nervenzusammenbruch erlitt war mir in diesem Moment scheissegal.
Doch genau dieser Moment war es, der mir klar machte: «Leila, du bist krank. Verdammt krank.»
Bild: Leila Alder by Elay Neal Moses
Dennoch liess ich Zeit verstreichen, schleppte mich zur Schule, lief viel zu viele Schritte am Tag und ass immer noch nichts. Abends im Bett spürte ich meinen unheimlich verlangsamten Herzschlag, das Atmen fiel mir schwer. Ich schlief gemeinsam mit meiner Mutter in ihrem Bett – keiner von uns wusste, ob ich am nächsten Tag wieder aufwachen würde.
Als die Angst um mein Leben endlich gross genug war, liess ich mich ins Auto hieven und ins Spital einliefern. Ich brauchte Hilfe, das wusste ich. Dennoch sträubte sich mein Kopf gegen das, was mir helfen würde – Essen. Körper gegen Kopf, Verstand gegen Kopf, Körper gegen Verstand.
Was da mit einem abgeht, kann ich schwer in Worte fassen. Es schreien Stimmen in deinem Kopf, gute und schlechte – doch man ist unfähig zu erkennen welche es sind.
Einen ganzen Monat verbrachte ich im Spital. Und irgendwann machte es Klick. Der Schalter kippte um. Ich ass. Tapfer, wie ein Krieger, tat ich das, wovon x-tausende von Menschen auf dieser Welt träumen und nicht die Möglichkeit dazu haben. Ich begann meine Krankheit aus anderen Blickwinkeln zu betrachten, begann sie zu hinterfragen und machte mich auf die Suche nach ihrem Ursprung.
Fünf Jahre, einen Rückfall und zahlreiche Therapien später habe ich ihn gefunden – dank einer Person, die mich gezwungen hat, den Teppich anzuheben – denn, er lag dort wo ich nicht hinschauen wollte. Meine Feigheit hat mir fünf verdammte Jahre meines Lebens gestohlen. Aber hey; better late than never!
Ich bin stolz auf mich, und dankbar für all jene die sich nicht aus meinem Leben verpisst haben, als ich das asozialste Arschloch dieser Welt war.
Was mir aber neben meiner eigenen Geschichte viel wichtiger ist, ist dass endlich Awareness für Essstörungen geschaffen wird und zwar richtig. Der Gesellschafts-Krankheit-Stempel nervt mich ungefähr genauso sehr wie, dass Magersucht mit naiven, oberflächlichen Chicks, die gerne so aussehen möchten wie das Mädchen im Bikini auf dem Plakat, assoziiert wird.
Anorexie ist eine schwere psychische Krankheit – nach wie vor die mit der höchsten Sterberate. Darüber gesprochen wird nur ganz selten. Bloss nicht hinschauen! So funktioniert übrigens auch die Sucht.
Vor kurzem hatte ich endlich die Chance das Thema öffentlich zu diskutieren. Ich wurde von Michel Kessler und Karin Bearpark als Podcast-Gast eingeladen. Die beiden nehmen seit einiger Zeit regelmässig Podcasts zu verschiedenen Themen auf, die die Welt und vor allem Millennials bewegen.
Wer meine Geschichte gerne noch etwas detaillierter erzählt haben möchte, sich für meine Meinung interessiert oder einfach lesefaul ist– there you go:
Bist du selbst betroffen oder machst du dir Sorgen um jemanden aus deinem Umfeld?
Die Arbeitgemeinschaft Ess-Störungen (AES), informiert und unterstützt Betroffene und ihre Angehörigen, bei jeglicher Art von Essstörungen.
Titelbild: @leila.alder by @elaynealmoses