Sprichwort-ChaosWas macht eine Familie aus?

«Blut ist dicker als Wasser» heisst, Familie ist wichtiger als alles andere. Doch basiert die Verbundenheit einer Familie wirklich nur auf Blutsverwandtschaft? Und verwenden wir die Definition des Sprichworts überhaupt richtig? Eine Erörterung.

Was macht eine Familie aus? Zwei Frauen schminken sich gegenseitig

Das Sprichwort «Blut ist dicker als Wasser» haben wir alle schon gehört. Damit wird ausgesagt, dass Familie über allem steht und generell eine wichtigere Bedeutung haben als Menschen, die wir im Verlauf des Lebens treffen. Hört sich doch eigentlich noch schön an? Doch wenn ich genau das höre, muss ich immer wieder die Augen verdrehen.

Erstens ist das Sprichwort ein Affront gegen alle Adoptivkinder und -eltern, alle Patchwork- und Polyamorie-Familien und alle anderen Formen von liebevollem Zusammenleben. Wer hat denn eigentlich das Recht zu sagen, dass Adoption oder andere Arten von Familienbanden weniger authentisch, liebevoll und wichtig sind, als Blutsverwandtschaften?

Zweitens wird das Sprichwort heutzutage meistens genutzt, um eine Verpflichtung aufzuerlegen, oder um das Verhalten eines Mitglieds der Familie zu entschuldigen. Da die Person in Frage mit dir verwandt ist, sollst du mehr machen, mehr akzeptieren und mehr entschuldigen als bei jemand anderem. Aber sind wir mal ehrlich: Familie ist nicht gleich Familie. Nur weil du mit jemandem blutsverwandt bist, heisst das noch lange nicht, dass du diese Person zu deiner Familie zählst. Doch genau das suggeriert die Definition «Blut ist dicker als Wasser».

Ich habe lange den Hype um die Familie nicht verstanden. Die Familienmitglieder, die mich weder respektiert haben noch nett zu mir waren, sind für mich genauso unwichtig, wie eine unsympathische Person im Zug. Wieso sollte ich für diese Person einen einzigen Finger krümmen? Weil wir dasselbe Blut haben? Nein, danke – da muss schon eine bessere Begründung her.

Natürlich habe auch ich Familienmitglieder, die ich über alles liebe. Aber das baut vor allem darauf auf, dass wir beispielsweise zusammen aufgewachsen sind und deswegen viele schöne Erinnerungen teilen. Oder weil wir so viel Zeit miteinander verbracht haben, dass wir einander in- und auswendig kennen.  Ob blutsverwandt oder adoptiert. Ich mag und respektiere alle, die ich zu meiner Familie zähle – und das beruht auf Gegenseitigkeit. Müssen wir dafür blutsverwandt sein? Nein.

Ich habe also den Familien-Begriff für mich etwas ausgedehnt. Meine besten Freund*innen gehören für mich mehr zu meiner Familie, als gewisse blutsverwandte Onkel, die ich kaum kenne. Zudem habe ich meine Freund*innen freiwillig in mein Leben geholt: Sie sind quasi meine ausgewählte Familie.

Klar ist es schön, sich auf die Familie verlassen zu können und zu wissen, dass sie immer für einen da ist. Als Kind und auch als Erwachsener. Doch nur weil jemand die gleiche Nase hat wie du, ist der Zusammenhalt nicht garantiert. Zudem ist ein genetischer Band keine Freikarte, um sich aufzuführen, wie man will – die Familie muss sich nicht alles gefallen lassen und erst recht nicht alles entschuldigen. Denn Blutsverwandtschaft sollte keine blinde Verpflichtung sein, sondern einen Boden, auf dem eine echte Beziehung wachsen kann.

Während jetzt die einen vielleicht die Welt nicht mehr verstehen, kann ich nur eins sagen: Das Sprichwort gäbe mir sogar Recht – wenn wir es richtig verwenden und die richtige Definition kennen würden!

Was viele nämlich nicht wissen, ist, dass «Blut ist dicker als Wasser» nur eine verkürzte Version ist. Auf Englisch heisst es «blood is thicker than water». Die lange Version hat jedoch eine ganz andere Bedeutung: «The blood of the covenant is thicker than the water of the womb». Das heisst so viel wie: «Das Blut des Blutsvertrages ist dicker als das Geburtswasser».

Der Ursprung dieses Sprichwortes ist jedoch schwierig zu eruieren. Es gibt Quellen, die sagen, dass «blood of the covenant» sich auf das Alte Testament bezieht. Danach war es wohl üblich, für einen Vertragsabschluss ein Tier zu schlachten und sich in das Blut des Tieres zu stellen. Dieses Band sei stärker als das der Familie. Gemäss anderen Quellen bezieht sich das Sprichwort auf den Krieg: Blut, das im Kampf vergossen wurde, verbindet Soldaten stärker als einfache Genetik.

Welcher Interpretation man auch folgt: Das Gewicht von genetischen Familienbanden wurde schon immer in Frage gestellt. Und das sollten wir auch. Denn auch von unseren Eltern und Geschwistern haben wir ein gewisses Mass an Respekt verdient. Wenn Genetik das einzige ist, was zwei Menschen miteinander verbindet, kann das ziemlich schnell zerbrechen. Dafür haben wir aber auch die Freiheit, Menschen zu unserer Familie zu zählen, die nicht mit uns verwandt sind. Starke Bande können überall entstehen.

Titelbild: Unsplash

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