Mut zu sprechenWann ist es Zeit für eine Therapie?

Sich an eine Psychotherapie zu trauen, braucht Mut. Das ist auch die Meinung der Psychologin Bettina Stauffacher. Im Interview spricht sie darüber, dass eine Therapie Geduld sowie innere Motivation abverlangt, und man lieber früher als später den Schritt wagen sollte.

Junge Frau sitzt im Zimmer einer Therapeutin

Ab wann sollte man zur Therapie? 

  • Psychologin Bettina Stauffacher spricht mit uns über das Tabu, dass eine Psychotherapie mit sich trägt
  • Eine Psychotherapie sollte in Erwägung gezogen werden, wenn das Leiden eines Menschen jeden Tag präsent ist
  • Bei der Auswahl einer Therapeutin oder eines Therapeuten empfiehlt es sich sorgfältig vorzugehen und sich zu fragen, ob eher ein Mann oder eine Frau, ein Psychologe oder ein Psychiater in Frage kommt und welche Therapierichtung sich eignet
  • Auf therapievermittlung.ch oder psychologie.ch kann man mit verschiedenen Filtern nach diesen Kriterien suchen

Frau Stauffacher, wie finde ich heraus, ob Psychotherapie überhaupt etwas für mich ist?

Wenn etwas Leiden verursacht, kann man grundsätzlich an eine Psychotherapie denken. Man muss jedoch wissen: eine Psychotherapie geht nicht schnell. Man muss an sich arbeiten.

Es braucht eine innere Motivation und eine Bereitschaft etwas zu verändern. Jeder, der jemals einen Jahresvorsatz formuliert und im Februar bereits vergessen hat, weiss, wie schwierig es ist, etwas an seinem Verhalten zu ändern.

Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine Psychotherapie gekommen?

Ich glaube, wenn das Leiden an den meisten Tagen präsent ist und einen im Leben stört. Vielleicht ist es dann sogar schon zu weit. Die meisten Leute kommen zu spät.

Eine Therapie zu machen ist mit vielen Vorurteilen und Ängsten verbunden. Man will nicht als verrückt gelten.

Das stimmt. Viele sagen, es sei ihnen peinlich oder es dürfe niemand erfahren, und fragen nach meiner Schweigepflicht. Das Thema ist sehr schambehaftet, weil es ja heissen würde, mit der Person stimmt etwas nicht, man falle aus der Norm – und das will man nicht.

Wie gehen Sie mit diesem Tabu um?

Zuerst sage ich meinen Patienten immer, dass es viel Mut braucht hierher zu kommen und das meine ich sehr ernst. Die meisten trauen sich nicht.

Noch mutiger finde ich es, wenn sich jemand in eine Klinik einliefert. Keiner spricht über diese Erfahrung, und doch gibt es rein im Kanton Zürich fünf Kliniken mit 100 bis 200 Betten, die immer belegt sind.

Es braucht sicher viel Überwindung, sich mit sich selbst auseinander zu setzen...

Ja. Die meisten Menschen wollen nicht richtig hinschauen. Wir Ärzte und Psychologen kennen aber auch diese Seite und wissen, wie es sich als Patient anfühlt. Regelmässige Therapiebesuche gehören zu unserer vierjährigen Therapieausbildung dazu.

Was für eine Vorarbeit soll man leisten, bevor man die Therapie beginnt?

Ich freue mich immer, wenn ein*e Patient*in weiss, was er oder sie von mir will. Man soll nicht erwarten, dass ich Probleme löse und Ratschläge gebe wie, «kündige deinen Job und beende diese Beziehung». Ich bin keine moralische Instanz.

Viel mehr versuche ich mit dem Menschen zusammen herauszufinden, was gut für ihn ist. Zum Beispiel könnte man sich als Vorbereitung die Frage stellen: Wo will ich in einem Jahr sein, wo in fünf, und was will ich sehen, wenn ich mit achtzig auf mein Leben zurückschaue?

Was verspricht eine Therapie?

Mehr Zufriedenheit und innere Ruhe. Patienten wünschen sich meistens glücklich zu sein, aber Glück ist ein Gefühl, das kommt und geht, wie jede andere Emotion.

Zuerst kann es einem in diesem Prozess durchaus schlechter gehen, aber wir Therapeuten fokussieren uns in der Therapie auch auf die Talente und Fähigkeiten des Patienten.

Psycholog*in oder Psychiater*in?

Die Unterschiede sind: Der Psychiater hat Medizin, und der Psychologe Psychologie studiert. Beide haben danach eine Therapieausbildung absolviert. Der Mediziner kann Medikamente verschreiben, der Psychologe nicht. Den Psychiater kann man über die Grundversicherung abrechnen, den Psychologen, wenn dieser alleine in einer Praxis arbeitet, muss man selbst bezahlen oder die Zusatzversicherung zahlt.

Wenn der Psychologe aber in einer Arztpraxis arbeitet, kann auch er über den Arzt Arbeitsunäfhigkeits-Zeugnisse ausstellen und Medikamente verschreiben. Das Modell nennt sich delegierte Psychotherapie. Ab nächstem Jahr können Hausärzte und Psychiater Patienten an Psychologen verweisen, die Therapie wird dann von der Krankenkasse übernommen.

Wie suche ich mir die richtige Therapeutin oder den richtigen Therapeuten aus?

Das sollte man sich sorgfältig überlegen. Man kann sich fragen, ob man lieber mit einer Frau oder einem Mann sprechen will und ob eher eine Psychoanalyse oder eine Verhaltenstherapie helfen würde.

Ich empfehle immer drei Therapeuten auszusuchen, eine Stunde zu schnuppern, und mit der Person, die einem am besten gefällt, die Therapie zu beginnen.

Wo finde ich einen Therapeuten?

Auf therapievermittlung.ch oder psychologie.ch kann man nach bestimmten Kategorien suchen: Frau, Mann, Arzt, Psychologe oder Therapieart. Oder man kann angeben, dass man ein Problem mit der Angst hat und dann werden die verfügbaren Spezialisten aufgeführt.

Jede Region in der Schweiz ist einer Klinik zugeteilt, die einen Versorgungsauftrag hat und Patienten aufnehmen muss.

Mit der aktuellen Pandemie haben wir realisiert, dass viele Therapeuten ausgebucht sind…

Das ist eine Katastrophe. Jeder trägt seinen emotionellen «Rucksack» mit sich rum und mit der Coronakrise sind die eigenen Probleme in den Vordergrund gerückt, weil wir uns selbst viel mehr ausgesetzt sind. Und wenn sich dann endlich jemand bereit für eine Therapie fühlt, und es dann keinen Platz gibt, finde ich das sehr schlimm… weil es gerade so viel Überwindung braucht.

Was macht man in dieser Situation?

Eine Option sind Ambulatorien, die aufnehmen müssen und deshalb leider ständig ausgebucht sind. Da bekommt man nur alle 6 Wochen einen Termin. Ansonsten denke ich: was hilft, hilft. Vielleicht kann man sich mit Homöopathie oder Massage was Gutes tun, solange man auf einen Therapieplatz wartet.

Bettina Stauffacher hat Psychologie in Zürich studiert und eine vier jährige Therapieausbildung absolviert. Sie hat viel Erfahrungen in stationärer Therapie und in der Forensik gesammelt und arbeitet seit neuestem in einer Praxis in Zürich.

Titelbild: Pexels

Mehr dazu